Das Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS entwickelt innovative Software-Lösungen für präzisere Diagnosen und wirksamere Therapien. Die Möglichkeiten sind ebenso vielfältig wie die Herausforderungen: Künstliche Intelligenz und selbstlernende Algorithmen werden den Alltag in Kliniken und Arztpraxen enorm voranbringen. Zugleich erfordern sie neue Strukturen etwa beim Datenschutz und im Zusammenwirken der verschiedenen Fachdisziplinen.
„Zwar werden die meisten Daten in der Medizin heute in digitaler Form erfasst, etwa als MRT- und CT-Bilder, Laborwerte oder genetische Daten“, sagt Horst Hahn, Institutsleiter von Fraunhofer MEVIS. „Allerdings sind diese Daten bislang nur unzureichend miteinander vernetzt, wodurch sich längst nicht alle Informationen, die in ihnen stecken, nutzen lassen.“ Fraunhofer MEVIS arbeitet an softwarebasierten Systemen, die Abhilfe schaffen können: Software-Plattformen, die MRT- und Ultraschall-Diagnosen verfeinern, minimalinvasive Therapien optimieren oder gezielt bei der Suche nach dem jeweils besten Medikament helfen. Das Ziel: eine Präzisionsmedizin, maßgeschneidert für den individuellen Patienten.
Der Weg dorthin bringt einige Herausforderungen mit sich. Die Flut an verfügbaren medizinischen Daten und die wachsende Zahl an Therapieoptionen bieten zwar neue Chancen, sorgen zugleich aber auch für eine wachsende Komplexität, die es im medizinischen Alltag zu bewältigen gilt. „Der Computer kann helfen, diese Komplexität zu managen“, betont Hahn. „Mit Methoden etwa aus der Künstlichen Intelligenz (KI) wollen wir erreichen, dass die Medizin in Zukunft präziser, vernetzter und effizienter agieren kann.“
Ein Beispiel: Onkologen sind heute kaum mehr in der Lage, sämtliches Wissen über all die Detailunterschiede der verschiedenen Tumorarten im Kopf zu haben. Ein digitales Unterstützungssystem soll ihnen künftig zur Seite stehen: Basierend auf einer selbstlernenden Mustererkennung könnte es beispielsweise bei ungewöhnlichen Krankheitsbildern ähnliche Fälle aus der Vergangenheit identifizieren. Daraus ließen sich dann wertvolle Informationen extrahieren: Welche Behandlungen sind damals zum Einsatz gekommen, welche Ergebnisse haben sie gezeigt?
Verborgene Muster aufspüren
Außerdem sollen medizinische KI-Systeme verschiedene klinische Parameter gleichzeitig analysieren, zum Beispiel Blutwerte, Bilddaten und EKG-Messdaten. Dabei dürften die Algorithmen auf Muster stoßen, die dem menschlichen Auge aufgrund der enormen Komplexität unweigerlich verborgen bleiben – Muster, die zum Beispiel die Früherkennung bestimmter Tumoren verbessern und dadurch die Heilungschancen erhöhen.
Die Voraussetzung, dass solche datengetriebenen Methoden zuverlässig funktionieren, sind Daten von hoher Qualität. „Garbage in, garbage out,” bringt es der stellvertretende Institutsleiter Matthias Günther auf den Punkt. „Daten von geringer Qualität lassen sich selbst mit den besten Algorithmen nicht veredeln.“ Unter anderem ist es wichtig, die Bildaufnahme etwa bei einem MRT-Scan automatisch zu überwachen, um Aufnahmefehler zu erkennen und möglichst frühzeitig zu beheben. Algorithmen, die das gewährleisten, hat Fraunhofer MEVIS bereits entwickelt.
Eine weitere Schwierigkeit: Verschiedene Kliniken und auch Gerätehersteller erheben ihre Daten oft nach unterschiedlichen Standards. „Das bereitet zum Beispiel dann Probleme, wenn man die Bilddaten für eine multizentrische Studie miteinander vergleichen will“, erläutert Günther. „Deshalb entwickeln wir Methoden, mit denen wir solche Prozesse standardisieren und die Qualität der Bilddaten gewährleisten.“ Den Datenschutz sollen dabei Methoden wie das dezentrale Lernen gewährleisten: Nicht die Patientendaten verlassen die Kliniken, sondern der Algorithmus kommt zu den Daten, um auf ihrer Basis trainiert zu werden.
Das digitale Patientenmodell
Der sorgfältige Umgang mit Daten ist eine der Grundvoraussetzungen für ein Konzept, das künftig eine wichtige Rolle spielen dürfte – das digitale Patientenmodell. „In dieses mathematische Modell fließt idealerweise alles ein, was man über einen bestimmten Patienten weiß“, erläutert Tobias Preusser, ehemaliger stellvertretender Institutsleiter von Fraunhofer MEVIS. „Von diversen Bilddaten über verschiedene Laborwerte bis hin zum DNA-Genotyp und Phänotyp.“ Dieses Computermodell agiert dann als eine Art digitaler Zwilling: Um die beste Behandlung zu finden, können die Mediziner verschiedene Therapieoptionen virtuell durchspielen.
„Damit ließe sich beispielsweise bewerten, ob eine Chemotherapie für einen Patienten das Richtige ist“, sagt Preusser. „oder auch eine Kombinationstherapie. Eine Bewertung von Therapieoptionen anhand des virtuellen Patientenmodells kann den Patienten vor unnötigen Risiken und Nebenwirkungen bewahren.“ Denkbar ist auch, digitale Patientenmodelle in klinischen Studien einzusetzen, etwa für die Entwicklung von Geräten oder Medikamenten. Womöglich ließe sich dadurch manch ein Tierversuch sparen. „Ein digitales Modell des gesamten Patienten ist allerdings noch Zukunftsmusik“, so Preusser. „Einzelne Organe wie die Leber, Teile des Herzens oder manche Gelenke können wir aber schon gut nachbilden, etwa um sie zur Operationsplanung einzusetzen.“
„Wichtig bei all diesen neuen Werkzeugen ist, dass es nicht die Maschine ist, die eine Entscheidung trifft“, betont Horst Hahn. „Das muss weiterhin den Medizinern und ihren Patienten vorbehalten bleiben.“ Dazu zählt, dass die Aussagen einer KI stets möglichst transparent und nachvollziehbar sind – und dass klar ist, welche Fehlerquellen und Unsicherheiten diese Aussagen haben. „Eines scheint klar“, glaubt Hahn. „Der Einsatz von KI-Systemen wird die Strukturen in der Medizin verändern.“ Die verschiedenen Disziplinen dürften enger zusammenrücken, eine neue Fachrichtung könnte hinzukommen: Um die Möglichkeiten der neuen Technologien auszuschöpfen, überlegen manche Kliniken bereits, eine eigene Abteilung für den Einsatz Künstlicher Intelligenz zu gründen.