Bislang müssen sich Chirurgen vor einer Leber-OP präzise einprägen, wo die wichtigen Blutgefäße im Organ verlaufen und wo sich gegebenenfalls ein Tumor genau befindet, der entfernt werden soll. Eine neue App für Tablet-Computer, entwickelt am Fraunhofer MEVIS in Bremen, könnte sie künftig unterstützen und damit helfen, die Komplikationsraten zu senken. Jetzt kam das System erstmals in Deutschland zum Einsatz. Am 15. August hat es ein Chirurgenteam der Asklepios Klinik Barmbek in Hamburg bei einer Leber-OP erfolgreich getestet.
Eine Krebs-OP an der Leber dauert meist viele Stunden, denn das Organ ist schwierig zu operieren: Es besitzt ein verästeltes Gefäßsystem, das pro Minute von eineinhalb Litern Blut durchflossen wird. Schneidet ein Chirurg an einer ungünstigen Stelle, droht der Patient viel Blut zu verlieren. Außerdem müssen die Ärzte darauf achten, dass ein für das Überleben des Patienten ausreichendes Organvolumen erhalten bleibt und dieses verbleibende Lebergewebe gut genug durchblutet wird. Dafür müssen sie vor und während des Engriffs möglichst genau wissen, wo die Blutgefäße im Inneren des Organs verlaufen.
Unterstützung verspricht eine neue Tablet-App vom Fraunhofer-Institut für Bildgestützte Medizin MEVIS in Bremen. Sie basiert auf einer etablierten MEVIS-Software zur Planung von Leberoperationen, die weltweit in Kliniken verwendet wird und bis heute bei mehr als 6000 Patienten zum Einsatz kam. Ausgehend von 3D-Röntgenbildern wird mit Hilfe dieser Software für jeden Patienten rekonstruiert, wo genau die Gefäße in der Leber verlaufen. Damit können die Chirurgen vor der OP präzise planen, wie und wo sie ihr Skalpell ansetzen müssen, um einen Tumor effektiv und schonend zu entfernen.
Doch es gibt eine Einschränkung: Meist haben die Ärzte während des Eingriffs kaum die Möglichkeit, einen Blick auf die von der Software errechneten Bilder zu werfen und den OP-Verlauf mit den Planungsdaten zu vergleichen. Manche Chirurgen behelfen sich mit Ausdrucken, die sie mit in den OP-Saal nehmen. "Mit unserer neuen App lassen sich nun sämtliche Planungsdaten direkt am OP-Tisch anzeigen", sagt MEVIS-Informatiker Alexander Köhn.
Beim Eingriff in Hamburg nutzten die Mediziner ein weiteres Feature der neuen App: Mit der integrierten Kamera des Tablets konnten sie die Leber während der OP abfilmen. Über das reale Bild blendeten sie dann die Daten der Planungs-Software - ein verästeltes Geflecht aus Gefäßsystemen, dargestellt in verschiedenen Farben. "Mit dieser Funktion können wir quasi in das Organ hineinschauen und die Tumoren sowie das Gefäßsystem sichtbar machen", sagt Prof. Dr. Karl Oldhafer, Chefarzt der Abteilung Allgemein- und Viszeralchirurgie der Asklepios Klinik Barmbek in Hamburg. Das erleichtert den Vergleich, ob der Eingriff so verlaufen war wie vorher geplant. "Durch die neue Technologie erwarten wir eine bessere Umsetzung der computerunterstützen OP-Planung für die Tumorentfernung", betont Oldhafer. "Die Methode hat großes Potenzial. Man kann sich vorstellen, sie auch bei der Operation anderer Organe einzusetzen, etwa der Bauchspeicheldrüse."
Die Grundversion der App hatte Alexander Köhn gemeinsam mit Ärzten der Universitätsklinik Yokohama entwickelt. Dort wurde sie Ende 2012 erstmals bei einer OP getestet. "Die japanischen Chirurgen zeigten sich von den Möglichkeiten des Systems sehr beeindruckt", sagt Köhn. "Sie hoffen, dass sich dadurch die Komplikationsraten senken und die Klinik-Aufenthalte verkürzen lassen." Für künftige Eingriffe bietet die App weitere interessante Möglichkeiten:
Durch simples Markieren auf dem Touchscreen kann der Arzt ausmessen, wie lang ein zu entfernendes Gefäßstück ist. Dadurch kann er genauer abschätzen, ob er die verbleibenden Enden zusammennähen kann oder ein anderes Gefäßstück einsetzen muss.
Nachdem der Chirurg bestimmte Gefäße entfernt hat, kann er sie auf dem Touchscreen mit einer "Radiergummi"-Funktion löschen. Die abgetrennten Gefäße verschwinden aus dem Bild und geben den Blick auf die darunter liegenden Strukturen frei.
Stellt sich beim Eingriff heraus, dass der zu entfernende Tumor größer ist als gedacht, müssen die Chirurgen spontan umdisponieren. Auch hier kann die MEVIS-App helfen: Müssen zusätzliche Gefäße entfernt werden, berechnet sie, welche Teile der Leber dadurch nicht mehr ausreichend durchblutet würden. Dadurch können die Chirurgen besser abschätzen, ob das verbleibende Organvolumen groß genug ist, damit der Patient überlebt.
Seit Jahren arbeitet Fraunhofer MEVIS an Verfahren, die bildbasierte Planungsinformationen im OP-Saal bereitstellen und den Chirurgen direkt zugänglich machen. Die Herausforderung dabei: Meist ist die Datenfülle sehr groß und muss, um dem Chirurgen stets nur die aktuell benötigten Informationen anzuzeigen, geschickt reduziert werden. Damit die Ärzte die gewünschten Daten schnell und gezielt anfordern können, entwickeln die Forscher neuartige Interaktionsstrategien. Tablet-Computer wie das iPad sind nur eine Möglichkeit, diese Ideen in die Tat umzusetzen. Andere MEVIS-Teams arbeiten daran, Navigationssysteme ähnlich wie die im Auto zu benutzen oder Planungsdaten direkt auf ein Organ oder das OP-Tuch zu projizieren und mit Hilfe von Gesten die erwünschte Information abzurufen.