Beim Residenzprogramm „STEAM Imaging IV“ ist die türkische Künstlerin Zeynep Abes den Geheimnissen des Gedächtnisses auf der Spur
Zu Beginn erscheint auf dem Monitor die MRT-Aufnahme eines Blutgefäßbaumes im menschlichen Gehirn. Dann setzen Geräusche und Musik ein, das Bild zerfließt, bildet Formen und Muster, die sich gleich wieder auflösen und zu neuen Strukturen zusammenkommen. Das Werk kann einen in den Bann ziehen und eintauchen lassen in einen assoziativen Strudel aus organisch anmutenden, hin und her fließenden Pixelwolken. „Moments Within: Forgotten Feelings and False Memories“ heißt die multimediale Arbeit der türkischen Künstlerin Zeynep Abes. Sie ist während des Residenzprogramms „STEAM Imaging IV“ entstanden, das in diesem Jahr vom Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS in Bremen in Zusammenarbeit mit Ars Electronica, der International Fraunhofer Talent School Bremen, dem Schulzentrum Walle, sowie dem UCLA ArtSci Center ausgerichtet wird. Im September wird das Kunstwerk online auf dem diesjährigen Ars Electronica Festival präsentiert. Ende 2022 ist es als Installation im ArtSci Center der University of California zu sehen.
STEAM steht für die Verknüpfung von Wissenschaft, Technologie und Mathematik mit anderen Disziplinen, wie der Kunst. Die Residenz erlaubt es Kunstschaffenden, sich intensiv mit den Fachleuten von Fraunhofer MEVIS auszutauschen, um sich in ihren Werken mit aktuellen Methoden, Entwicklungen und Ergebnissen der Forschung kritisch auseinanderzusetzen. Zentraler Bestandteil des Programms ist die gemeinsame Begegnung mit Schüler:innen und ihren Eltern des Schulzentrums Walle. Damit beschreitet Fraunhofer MEVIS einen originellen Weg: Die Allianz aus Kunst und Forschung ermöglicht es den angehenden Studierenden und ihren Eltern, sich naturwissenschaftlich-technischen Themen aus einer neuen und unerwarteten Perspektive zu nähern und ermutigt sie, sich auf selbstbestimmte, kreative Weise mit Wissenschaft, Technologie und Kunst zu beschäftigen.
Zeynep Abes lebt und arbeitet in den USA. Viele ihrer multimedialen Werke drehen sich um einen psychologisch-medizinischem Begriff – das Gedächtnis. „Es fasziniert mich, wie sich Erinnerungen im Laufe der Zeit verändern und welche Rolle alte Fotos, Videos und Tonaufnahmen spielen, wenn wir die Vergangenheit in unserem Kopf rekonstruieren“, sagt Abes. „Und ich frage mich: Welche Rolle können Kunstschaffende bei der Bewahrung von Erinnerungen spielen?“ Ihre Themen kreisen um Identität, Geschichte und Erinnerungsverlust. Eines ihrer früheren Werke illustriert das eindrücklich: „Memory Place“ zeigt eine virtuelle, traumartig anmutende Kamerafahrt durch eine Straße in Istanbul, digital rekonstruiert aus alten Fotos und persönlichen Erinnerungen. Zudem hat sie Erfahrungen mit Bildungsworkshops zu Themen der sozialen Gerechtigkeit und des achtsamen Medienmachens.
Fließende Muster
Als Grundlage für ihr aktuelles, während der Künstlerresidenz entstandenes Werk verwendete Abes einen hochauflösenden MRT-Scan, er zeigt die Gefäße eines menschlichen Gehirns. Dabei griff sie jene Regionen heraus, die für unser Erinnerungsvermögen besonders wichtig sind – Hippocampus, Amygdala, präfrontaler Kortex und Neokortex. Wird die Animation gestartet, fließt das Bild in ruhigen und dennoch dynamischen Bewegungen auseinander, folgt rätselhaften Flusslinien, um sich zu neuen Strukturen zusammenzufügen.
„Die Point-Cloud-Animation ist mit Absicht so programmiert, dass sie jedes Mal, wenn man sie abspielt, ein wenig anders reagiert, es passiert nie dasselbe“, erklärt Abes. „Ganz ähnlich wie bei unserem Gedächtnis: Jedes Mal, wenn wir uns an etwas erinnern, mutet das Erinnerte ein bisschen anders an.“ Und: „Jeder, der die Animation betrachtet, sieht in den sich verändernden Mustern etwas anderes“, erzählt sie. Das Geschehen wird durch eine atmosphärische Collage aus Musik und Stimmen vertieft. „Unter anderem ist mein singender Großvater zu hören, bei ihm wurde vor einigen Monaten eine Demenz diagnostiziert“, erzählt Zeynep Abes.
Bei der Entstehung von „Moments Within“ arbeitete sie eng mit den Fachleuten von Fraunhofer MEVIS über einen Zeitraum von acht Wochen in intensiven Videositzungen zusammen. „Ich komme aus dem Bereich der Sozialwissenschaften, und es war sehr interessant für mich, das Thema Gedächtnis aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive zu betrachten“, erklärt Abes. „Es war faszinierend etwas darüber zu erfahren, wie das Gehirn Erinnerungen kodiert, sortiert, speichert und wieder abruft, und inwieweit medizinische Bildgebung hier eine Rolle spielen kann.“
Bestimmte Aspekte interessierten die Künstlerin dabei besonders: Wie kommen falsche Erinnerungen zustande, wie erschaffen wir sie in unserem Kopf? Warum erinnern sich Geschwister an ein- und dasselbe Ereignis manchmal völlig unterschiedlich? Welche Rollen spielen Emotionen beim Abspeichern von Erinnerungen? Und lässt sich mit Hilfe von Gehirnscans das Gedächtnis visualisieren, also regelecht sichtbar machen? „Zu meiner Überraschung antworteten die Fachleute, dass das so direkt nicht möglich sei, es gibt im Hirn keine speziellen Stellen, wo unsere Erinnerungen sitzen“, so die Künstlerin. Für ihr Schaffen war das nicht unbedingt von Nachteil: „So konnte ich mir viele künstlerische Freiheiten nehmen und das Werk in einem emotionalen und poetischen Sinn gestalten.“
Gelungene Kommunikation
Ein integraler Bestandteil des Residenzprogramms sind die gemeinsamen Aktivitäten mit Schüler:innen aus dem Gesundheitsschwerpunkt am Schulzentrums Walle. In der Workshopreihe „Von der Hand über den Magnetresonanztomographen ins Smartphone: Manuell und digital erzeugte Darstellungen des Körpers“ sammelten sie Hands-on-Erfahrungen in medizinischer Bildverarbeitung, in anatomisch-medizinischem Zeichnen und mit AR-Technologien. Parallel lernten sie die Künstlerin Zeynep Abes kennen, die im selben Zeitraum ihre Zusammenarbeit mit MEVIS begann. Gemeinsam mit den Wissenschaftler:innen erarbeiteten sie Themen für Abendveranstaltungen zu aktuellen Gesundheitsthemen: Wie verändert sich das Gedächtnis bei einer Alzheimer-Erkrankung? Was ist noch Science-Fiction und was schon Realität in der Medizin? Und wie kommt medizinische Forschung in die Anwendung?
Das Besondere: Zu diesen Abenden sind auch die Eltern eingeladen. „So wollen wir einen Zugang zu neuen Technologien in der digitalen Medizin und den dafür benötigten MINT-Fächer ermöglichen“, sagt Bianka Hofmann, die das Residenzprogram gemeinsam mit ihrer Kollegin Sabrina Tölken leitet und entwickelt. „Die Annäherung der Ausbildung an die Anforderungen der realen Welt und die Notwendigkeit, junge MINT-Akademiker:innen mit diversen Lebenshintergründen zu gewinnen, sind wichtige Herausforderungen, die wir mit dem Projekt angehen“. Denn: „Nach wie vor sind die Eltern einer der Haupteinflüsse, wenn es um die Studienwahl ihrer Kinder geht“, betont Sabrina Tölken.
Die Basis der Abendveranstaltung bilden vorbereitete Kernfragen. Sie dienen als Rahmen für einen Dialog zwischen Zeynep Abes und den MEVIS-Forschenden, der für alle Teilnehmer:innen offen ist. Diese überaus offene Gesprächsform erleichterte es den Schüler:innen und ihren Eltern, sich in die Diskussion einzubringen.
Mit diesen Aktivitäten fungiert STEAM Imaging als Inkubator für den Aufbau einer dauerhaften Schulpatenschaft mit dem SZ Walle. Das Ziel ist, die voruniversitäre Talentförderung des Forschungsinstituts gemeinsam mit Lehrenden und Schüler:innen zu entwickeln, um dadurch fundierte Erfahrungen über Berufe in der digitalen Medizin zu ermöglichen. Neben Praktikumsplätze, Expertengesprächen zu Berufsbildern, möglichen Studienfächern und Karrieremöglichkeiten sollen realistische Einblicke in die konkreten Arbeiten der Wissenschaftler:innen gegeben werden.