Wegweiser für die beste Behandlung
Die Diagnose ist gestellt, jetzt geht es für die Mediziner darum, gemeinsam mit ihren Patienten eine geeignete Therapie zu finden. Doch in Zeiten, in denen mehr und mehr Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, liegt die geeignetste Lösung nicht immer offensichtlich auf der Hand. Das Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS entwickelt KI-basierte Unterstützungssysteme, die die Entscheidungsfindung erleichtern und den Weg zur optimalen Therapie weisen sollen.
Operieren oder abwarten? Chemotherapie oder nicht? Medikament weiter nehmen oder das Präparat wechseln? Solche Entscheidungen gehören zum Alltag in Kliniken und Arztpraxen. Doch sind sie nicht immer einfach zu treffen, denn: „Eine Therapieentscheidung ist in der Regel von vielen Parametern abhängig“, sagt Fraunhofer-MEVIS-Forscherin Andrea Schenk. „Welche Bilddaten liegen vor, hat eine Patientin oder ein Patient Vorerkrankungen? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es und was besagen die jeweiligen Therapieleitlinien?“ Die Herausforderung dabei: Durch den medizinischen Fortschritt wächst die Menge der zur Verfügung stehenden Daten sowie die Zahl der in Frage kommenden Behandlungsoptionen stetig an.
Hier können CDS-Systeme (CDS = Clinical Decision Support) helfen. Im Idealfall bilden diese Entscheidungsunterstützungssysteme den Patienten als individuelles digitales Modell ab, in das alle verfügbaren Daten sowie die aktuellen Leitlinien einfließen. Damit lassen sich verschiedene Therapieansätze per Software simulieren und vergleichen – was den Medizinern wichtige Hinweise geben kann, welche Behandlung die wirksamste bzw. die schonendste ist. „Bislang gibt es solche CDS-Systeme nur in Ansätzen, meist decken sie nur bestimmte Teilbereiche ab“, erklärt Schenks Kollege Markus Wenzel. „Wir arbeiten zusammen mit unseren Forschungspartnern an umfassenderen Lösungen, die Daten aus unterschiedlichsten Quellen integrieren und vereinheitlichen sollen.“
Lücken in Leitlinien füllen
Der zentrale Gedanke: Die neuen Systeme sollen helfen patientenindividuell zu agieren, statt nach einem relativ starren Schema. Zum Beispiel könnte es sein, dass bei einer bestimmten Brustkrebs-Patientin die Leitlinien eine Entfernung der Brust empfehlen. Dagegen könnte es sein, dass ein CDS-System, das mit umfassenden Bild- und Labordaten der Patientin sowie mit den Resultaten aktueller klinischer Studien gefüttert wird, zu einem anderen Schluss kommt: Womöglich stellt für diesen Fall eine brusterhaltende Strahlentherapie eine ebenso gute oder sogar die bessere Option dar.
„Leitlinien können längst nicht alle Fälle abdecken und besitzen deshalb zwangsläufig Lücken“, erläutert Wenzel. „Wir wollen helfen, diese Lücken mithilfe einer intelligenten Modellierung zu füllen.“ Ein wichtiges Element dabei ist die Segmentierung – eine Software, die beispielsweise auf einem MR-Bild automatisch die Größe und Lage eines Tumors erkennt. Diese Segmentierung bildet die Basis dafür, überhaupt ein individuelles Patientenmodell erstellen zu können.
„Auf Grundlage dieses Modells lässt sich dann beispielsweise auch simulieren, ob ein geplanter Lebereingriff oder eine bestimmte Art von lokaler Tumorzerstörung den erhofften Erfolg bringt“, erläutert Andrea Schenk. „In diesen Bereichen haben wir bereits viele Vorarbeiten geleistet, die wir in künftige Systeme einbringen können.“ Denn Fraunhofer MEVIS alleine wird kein komplettes CDS-System bauen. Stattdessen will das Institut maßgebliche Komponenten liefern und dabei eng mit einem Netzwerk aus Forschungspartnern, Unternehmen und Fachgesellschaften kooperieren.
Transparente Algorithmen
Ein weiteres Element künftiger CDS-Systeme sollen lernfähige Algorithmen sein, die in medizinischen Datenbanken Fälle aufspüren können, die einen ähnlichen Verlauf hatten wie der jeweils aktuelle Fall. Dieser Vergleich könnte den behandelnden Medizinern dann wichtige Aufschlüsse bringen: Welche Untersuchungen haben wichtige Informationen geliefert, welche Therapien hatten in diesem speziellen Fall Erfolg, welche waren weniger wirksam? Wichtig ist auch, Patientinnen und Patienten in den Prozess mit einzubeziehen. „Die Empfehlungen eines CDS-Systems sollten nicht nur für Ärztinnen und Ärzte verstehbar sein, sondern auch den Patienten vermittelbar“, meint Andrea Schenk.
Das gilt auch und gerade für den Einsatz von KI-Algorithmen: Hier ist es essenziell, dass deren Aussagen nicht einfach aus einer Black Box kommen, sondern transparent und für die Bediener nachvollziehbar sind. „Der Mensch muss sozusagen am Schaltpult bleiben“, betont Markus Wenzel. „Wir betrachten CDS-Systeme als Hilfsmittel zur Verwaltung der stetig wachsenden Komplexität, um allen Beteiligten eine multidimensionale Entscheidung überhaupt erst zu ermöglichen. Als Folge der Nutzung solcher Systeme erhoffen wir uns, dass die Mediziner künftig mehr Zeit für ihre Patienten haben.“